Alles über Hochsensibilität: Merkmale, Mythen, Ursachen, Tests und Praxistipps

Hochsensibel = empfindlich oder sensibel stark? Okt. 9, 2025

Alles über Hochsensibilität: Merkmale, Mythen, Ursachen, Tests und Praxistipps

„Sie sind wie die Heldin dieses Märchens von Hans Christian Andersen.“

„Ach ja?“ Ich schaute meinen Arzt überrascht an? Heldin? Märchen? Ich saß bei ihm wegen wochenlang anhaltender Kopfschmerzen in Migränestärke, samt Geräusch- und Lichtempfindlichkeit.

„Jaaaa …“ sagte er und holte Luft: „Sie sind wie die Prinzessin auf der Erbse.“

Er gab mir dann noch die Empfehlung, ich solle meinen „Lebensstil verändern“ (sprich: mir einen ruhigen, anspruchsloseren Job suchen).

Ich war trotz meiner Erschöpfung verärgert und fassungslos – und hatte insgeheim Angst, er könnte Recht haben. (Hatte er nicht: Ich litt zusätzlich zu meiner Hochsensibilität zu dem Zeitpunkt an einem weit fortgeschrittenen Burnout, der das meiste der akuten Beschwerden erklärte. Und dann wieder doch: Denn ich verstand irgendwann, dass ich den Job nicht ändern musste, weil er zu anstrengend für mich Sensibelchen war, sondern weil er – typisch werteorientiert-hochsensibel – nicht mehr zu meinen Werten und Entwicklungswünschen passte).

Der Arzt war übrigens wirklich wohlwollend und auch hilfsbereit – aber in Hinsicht auf die dann doch noch richtig gestellte Diagnose. Die Geschichte meines Burnouts werde ich an anderer Stelle teilen.

Hier geht es um Hochsensibilität – und darum, warum sie oft selbst von Fachleuten völlig falsch verstanden wird (etwa einseitig als Schwäche oder „Superpower“) – und darum, was sie wirklich ist.

In den letzten Jahren haben mir Menschen, die ich begleite – von denen viele auch hochsensibel sind-, wunderbare Fragen dazu gestellt. Etwa:

  • Ist Empathie immer gut?
  • Wie kann ich verhindern, dass ich mir selbst schade, wenn ich so offen bin?
  • Ich bin nicht hochsensibel. Ich bin ja keine Mimose – oder?
  • Bin ich verrückt oder weiß ich manchmal wirklich, was andere fühlen und denken?
  • Warum nehme ich andere so viel wichtiger als mich selbst? Ich weiß ja, dass das dumm ist.
  • Ist mein Partner oder Kind vielleicht auch hochsensibel? Und wenn ja, wie kann ich ihnen helfen?
  • Sind wir heute nicht alle überstimuliert durch die vielen Reize, Medien und schockierende News?
  • Wie kann man sich als hochsensibler Mensch vor Dauerreizen und Überlastung schützen, wenn zugleich man auch viel bewirken will? Oder ist es die klügere Lösung, sich zurückzuziehen?
  • Bin ich als Hochsensible:r besonders Burnout-gefährdet?

Darum geht es in diesem Blogartikel. Und um die Frage:
Was ist Hochsensibilität wirklich – und warum wird sie oft verkannt?

Hochsensibilität ist keine Krankheit

„Du bist zu empfindlich!“

Diesen Satz hören manche Menschen im Laufe ihres Lebens von ihrem Umfeld öfters. Manche Mitmenschen meinen es wahrscheinlich aber auch durchaus gut, im Sinne von „Nimm dir das doch nicht so zu Herzen!“

Auch das ist eine hochsensible Märchenfigur von Hans Christian Andersen: Die kleine Seejungfrau. Anders als die ewig „pienzige“ Prinzessin auf der Erbse verstehe ich ihr Dilemma sehr viel besser – die Sehnsucht nach dem Verstandenwerden, die so groß ist, dass jede Grenze überschritten wird und just die innere Stimme geopfert. Nun, es war einmal … denn das Muster lässt sich verändern.

Die ersten drei Jahrzehnte meines Lebens machte mich das stets fuchtig. Denn es stimmte aus meiner Sicht überhaupt nicht. Ich hatte definitiv ein anderes Selbstbild: Das von einer toughen Kämpferin! (War ich auch!). Ich war schon immer in der Lage gewesen, eine ganze Menge auszuhalten. Mehr als die meisten anderen, hätte ich sogar gesagt.

Doch irgendwann dämmerte mir, dass nicht alle so viel wahrnahmen und innerlich erlebten, was sie hätten „aushalten“ müssen wie ich. Irgendwann stieß ich auf den Begriff „hochsensibel“. Ich war skeptisch: Meint das nicht diese ewig überlasteten Frauen, die nur um sich und die eigenen Empfindungen kreisen und immer Migräne haben, wenn eine Anstrengung auf sie zukommt?

Doch ich selbst bekam irgendwann auch immer öfter Migräne. Und je mehr ich über Hochsensibilität las und ehrlich in mich hineinspürte, desto klarer wurde mir: Das trifft auf mich zu.

Mir gingen nach und nach ganze Kronleuchter auf, warum ich oft gestresst war – während andere scheinbar tiefenentspannt blieben. Warum ich oft Entwicklungen früher richtig einschätzte als die meisten (und dafür „Kassandra“ genannt wurde). Warum ich zwar Menschen liebe und Verbundenheit einer meiner höchsten Werte ist – und ich dennoch viel Zeit für mich alleine brauche.

Ich machte damals die üblichen Selbsttests (dazu unten mehr) und sie schlugen alle stark aus. Interessanterweise habe ich heute, obwohl ich meine Sensibilität viel weniger verdränge als damals, niedrigere Werte in diesen gleichen Tests. Denn ich habe inzwischen gelernt, mit den Herausforderungen, die mit Hochsensibilität einhergehen, ganz anders umzugehen – und nutze zugleich die Stärken, die darin liegen.

Hochsensibilität – noch so ein Trend?

Der Begriffs der Hochsensibilität wurde Ende der 1990er Jahre von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron geprägt. Sie hatte beobachtet – an sich selbst und vielen ihrer KlientInnen – dass einige Menschen eine im Vergleich zum Durchschnitt erhöhte Sensitivität aufweisen. Sie bezeichnet einen solchen Menschen als „Highly sensitive person“ (HSP wird oft als Abkürzung verwendet und ist auch im deutschen Sprachraum gebräuchlich). Ihrer Schätzung nach weisen 10-15% aller Menschen diese Eigenschaft auf. Das ist auch der Wert, der von den meisten Quellen zitiert wird. Eine objektive und validierte Messung oder Studie dazu ist mir nicht bekannt.

Hochsensibilität ist nach allgemeinem Verständnis keine „Krankheit“ und entsprechend auch keine Diagnose. Sondern es handelt sich nach Auffassung der meisten um eine „Charaktereigenschaft“.

Die Grunddefinition lautet: erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems, größere Offenheit der Wahrnehmung + tiefere Verarbeitung

Forschung – ausbaufähig

Der Stand der Forschung ist leider noch nicht sehr ausgeprägt – vor allem, da man dem Phänomen keinen Krankheitscharakter zuschreibt und insofern Forschung Finanzierungsherausforderungen hat. Trotzdem gibt es schon eine Vielzahl spannender Studien! Hier gibt es eine Übersichtsseite zu Studien, die sich mit Hochsensibilität auseinandersetzen. Hier findet sich ein weiterer Forschungsreader der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung „Genetic Psychology“.

Hochsensibilität ist keineswegs gleichzusetzen mit Schwäche – sie ist vielmehr eine Stärke und bietet für die Einzelnen wie auch ihr Umfeld und die Gesellschaft an vielen Stellen wertvolle Impulse. Zugleich ist sie zutiefst subjektiv und schwer messbar. Umgekehrt ist sie auch keine Ausrede: viele Hochsensible entdecken vielmehr einen tieferen Sinn darin, der ihnen einen speziellen Beitrag in der Welt ermöglicht.

Und sie ist auch kein Trend, da es diese Charaktereigenschaft schon immer gegeben hat. Offenbar tritt sie auch im Tierreich auf.

Dennoch: Der Begriff wurde, besonders in den letzten Jahren, inflationär von vielen genutzt – von Medien, Coaches und Sinnsuchenden.

Bei einigen trieb das seltsame Interpretations- und Identifikations-Blüten und man könnte fast den Eindruck gewinnen, es handle sich bei HSP um eine Art Übermensch oder Gesandte zur Rettung der Menschheit („Starseeds“). Oder aber um Opfer ihrer überfeinen Wahrnehmung, die nur mit Hilfe intensiven Coachings lernen können, damit überlebensfähig zu sein. Und dann gibt es noch die Fraktion, die Hochsensibiltät als Superpower sieht und mit Vielbegabung und Hochbegabung gleichsetzt. (Was die geheime „Superpower“ angeht, stimme ich zu!)

Sind Nicht-Hochsensible unsensibel? Keineswegs!

Letztlich sind aus meiner Sicht alle Menschen zu hoher Sensibilität fähig. Das kann man bei Babys und Kindern sehr gut sehen. Der Hauptunterschied zwischen „normal Sensiblen“ und Hochsensiblen ist jedoch meines Erachtens, dass letztere immer mehr wahrnehmen, während die Mehrzahl der Erwachsenen sich zwar auf eine Empfindung oder Wahrnehmung willentlich einlassen kann und diese dann genauso „fein“ und empathisch spürt, aber eben viel mehr Wahlmöglichkeit darüber hat als HSP.

Normalsensible sind genauso fähig zu tiefer Feinfühligkeit – wenn sie es wollen. Der Unterschied zu Hochsensiblen ist, dass letztere ihre Feinfühligkeit nicht willentlich an oder -abschalten können.

Manche Menschen scheinen als Erwachsene auch ihre Sensibilität zu verlieren – sicher wird aber auch viel verdrängt und abgespalten.

Denn: Wer empfindet (sich) schon gerne als Mimose?

Mimose, ich?! Warum viele sich nicht als hochsensibel sehen

empfindlich, zart, schwach, nicht belastbar, übermäßig gefühlsbetont, unsachlich, hysterisch, irrational, verweichlicht, selbstbezogen, ausweichend, schmerzempfindlich, lasch, willenlos, unkonzentriert, überfordert

All das sind Attribute, die im allgemeinen Sprachgebrauch nahe an „sensibel“ stehen.

Wenn man genauer hinschaut, sind fast alle mit starker Abwertung verbunden. Und wenn man sich fragt, wer damit wohl beschrieben sein könnte, wird in den meisten Köpfen das Bild einer Frau auftauchen. Sensibilität wird stark mit Weiblichkeit assoziiert. Und wurde von der patriarchalen Gesellschaft über Jahrtausende abgewertet.

Hochsensibel als Karrieregift und Selbstbewusstseinsdämpfer

Kein Wunder, dass Männer sich besonders schwer tun, sich selbst zuzugestehen „sensibel“ zu sein. Insbesondere, wenn sie mit einem traditionellen Rollenbild aufgewachsen sind, haben sie ein echtes Dilemma!

Doch auch für Frauen ist das Label höchst unattraktiv – und potenziell karriereschädlich!

Vor allem aber weil die meisten, so wie auch ich, ein ganz anderes Selbstbild und Selbsterleben haben. Sie sind nicht schwach!

Die Macht der Worte: Was ist der passende Name?

Sie sind höchst engagiert, verantwortungsbewusst, fleissig und oft auch leistungsorientiert und idealistisch. Sie gehen regelmäßig weit über eigene Grenzen und auch „normale“ Grenzen hinaus…

Allerdings sicher auch oft in dem unbewussten Bestreben, etwas zu verbergen oder zu kompensieren, für das sie als Kinder beschämt wurden: „Sie doch nicht so empfindlich!“ „Stell dich doch nicht so an.“ „Reiss dich zusammen.“ „Das ist nicht so wie du sagst“ (Hochsensible haben feine Antennen für Wahrheit und Lüge, im Familiensystem werden sie oft zu Geheimnismitwissern und zugleich in ihrer Wahrnehmung verleugnet).

Dennoch spüren die meisten HSP – auch wenn sie das Label ablehnen oder gar nicht als auf sich zutreffend erkennen – dass sie neben einigen Herausforderungen auch seltene Stärken haben: Etwa vernetztes Denken, eine besondere Empathie oder feine Intuition. Viele geniessen auch die Intensität ihrer Wahrnehmung – etwa bei Kunst und Musik oder beim Essen.

Ich bevorzuge daher Begriffe wie „feinfühlig“, „sensitiv“ oder „hochsensitiv“, „intensiv wahrnehmend“ und „tief empathisch“ gegenüber „hochsensibel“.

Trotzdem trifft „sensibel“ exakt den Kern des Pudels: Hochsensible sind Sinnes- und Gefühls-orientiert.

Die drei Hauptachsen der Hochsensibilität

Es gibt Menschen, die haben eine laserartige Aufmerksamkeit. Und sie können switchen: Zwischn Input von außen und fokussierter Denkarbeit innen.

Genau dieser „Schalter“ zwischen „offen“ und „geschlossen“ fehlt bei Hochsensiblen … oder hat einen starken Wackelkontakt. HSP können sich dennoch tief konzentrieren und sehr tief verarbeiten. Aber sie brauchen dafür Reizabschottung.

Dieses einfache Bild soll helfen, eine der „Grundeinstellungen“ von hochsensiblen Menschen besser zu verstehen: die sensorische Reizoffenheit. Licht, Geräusche, Gerüche … all das wird intensiv wahrgenommen. Die Reizschwelle im Gehirn Hochsensibler ist niedriger als bei normal sensitiven Menschen. Wir alle bekommen pro Sekunde ca. 4 Mrd. Sinneseindrücke über unsere Sinne ins Gehirn. Bei den meisten schaffen es nur einige hundert bis ins Bewusstsein. Nicht so bei HSP: Sie nehmen mehr bewusst wahr – und können sich auch schlecht dagegen „wehren“!

Das führt natürlich schnell zu einer Überlastung der Verarbeitungsfähigkeit im Gehirn – und damit zu einer Daueraktivierung des sympathischen Nervensytems (Stressachse): Denn eine überbordende Menge von Informationen, die im Gehirn nicht vollständig auf Gefahr oder Sicherheit überprüft werden kann, aktiviert im Nervensystem Alarmbereitschaft (quasi: Man könnte ja etwas Gefährliches oder Relevantes übersehen haben).

Die zweite Achse der Informationsverarbeitung, die bei HSP anders ist als bei „Normalsensiblen“, ist die Tiefe der Informationsverarbeitung. Man kann sich dies so vorstellen, dass das Gehirn die unverdauten Informationen mehrfach durchgeht und schaut, was vielleicht doch noch relevant ist und im Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen steht. Diese Art des assoziativen und ganzheitlichen Verarbeitens von Eindrücken und Erfahrungen führt oft zu Gedanken- und Einfallsvielfalt (Kreativität), aber auch zu „intuitiven“ Einsichten und vernetztem Denken. (Man könnte auch sagen, dass die Grenze zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein durchlässiger ist).

Ein drittes Charkteristikum ist die besonders ausgeprägte Empathiefähigkeit von Hochsensiblen. Das mag mit stärker aktivierten Spiegelneuronen zusammenhängen, einer feineren emotionalen Wahrnehmung geschuldet sein oder ein Seiteneffekt des vernetzten Denkens, das es erlaubt, sich tief in andere hineinzuversetzen.

Negativ ausgedrückt, führen diese Grundeinstellungen dazu, dass HSP oft Schwierigkeiten haben, sich abzugrenzen: gegenüber Sinneseindrücken, Gefühlen und Erwartungen anderer Menschen und gegenüber eigenen Innenwahrnehmungen, Erwartungen und Ideen.

Und diese permanente Überflutung mit Eindrücken wiederum kann zu Daueranstrengung bis hin zu einem tiefen Gefühl von Überwältigtsein und Überforderung führen.

Es ist offensichtlich: Es gibt große Überschneidungen mit Aspekten von Autismus und ADHS – Mehrfach-„Diagnosen“ sind keine Seltenheit. Viele zählen Hochsensibilität daher auch zum Spektrum der Neurodivergenz. Dennoch gibt es auch vieles, was Hochsensibilität von diesen Erkrankungen unterscheidet. Vor allem aber: Hochsensibilität ist keine Diagnose!

Modell zur Beschreibung der 3 Achsen von Hochsensibilität: Sinne-Fühlen-Denken.
Von der Reizoffenheit zur Resonanzkompetenz: Jede hochsensible Person hat ein individuelles Profil auf diesen drei Achsen – und es ist je nach Lebensphase, Umfeld und Selbstregulation in einer bestimmten Dimensionen akzentuiert. Zugleich ist es lebenslang veränderbar in Richtung innerer Balance. (Grafik erstellt mit Canva, (c) Cornelia Lichtner, 2025)

Überblick: 3 Achsen der Informationsverarbeitung

  • SINNE – sensorische Reizoffenheit: Wahrnehmung einer Vielzahl von externen und internen Reizen mit durchlässiger Grenze zwischen „bewusst“ und „unbewusst“
    -> Schwäche: Überflutet-Fühlen
    -> Stärke: Kreativität, Intuition
  • DENKEN – tiefe Verarbeitung: ganzheitliches und assoziatives Denken samt Gedankenfülle -> Schwäche: Konzentrationsprobleme, Scannertum
    -> Stärke: Multipassioniertheit und vernetztes Denken
  • FÜHLEN – hohe Empathiefähigkeit: intensives Fühlen und Mitfühlen
    -> Schwäche: Mangelnde Abgrenzung und Durchsetzungsfähigkeit
    -> Stärke: Verbundenheit, Fürsorge und Werteorientierung

Vom „fehlenden gesunden Egoismus“

Sind Hochsensible immer verkappte Mutter Theresas? Wahrscheinlich nicht immer – aber meiner Beobachtung nach (bei mir selbst und bei hochsensiblen Klient:innen): Sehr häufig!

Idealismus, Altruismus bis hin zur Selbstschädigung und ein sehr feiner Gerechtigkeitssinn scheinen zur Grundausstattung von Hochsensiblen zu gehören:

Werte & Idealismus: starkes Bedürfnis nach Stimmigkeit, Leiden an Unstimmigkeit und Ungerechtigkeit

Ambivalenz & Entscheidungsschwierigkeiten: „eingebaute Mehrperspektivität“, schwerer Fokus auf die eigene Position

Außenorientierung: oft auf andere oder Umwelt gerichtet, weniger auf eigene Bedürfnisse

Es sind im Grunde sehr positive Eigenschaften – doch sie können den Betroffenen das Leben extrem schwer machen, besonders wenn sie sich in einem Umfeld befinden, das ihre hohen Werte und Standards nicht teilt und ihr Engagement nicht wertschätzt.

Das deutet darauf hin, dass diese Eigenschaften nicht nur aus der Sonnenseite der Psyche kommen, sondern zumindest teilweise auch aus der „Wunde“, die oft mit Hochsensibilität einhergeht. (Auf den möglichen Kontext von HSP und Trauma gehe ich weiter unten tiefer ein).

Empathie und Altruismus als „Folge“ von Neurobiologie?

Fangen wir zunächst mit der eher biologischen Seite an: Durch die starke Außenorientierung von HSP aufgrund der hohen sinnesbasierten Stimulation entwickelt sich schon früh die Gewohnheit, die Aufmerksamkeit mehr auf das Umfeld als auf sich selbst zu richten. So fein HSP andere spüren können, so schlecht sind sie oft darin, sich selbst zu spüren. Nicht weil sie es nicht könnten – im Gegenteil. Sondern weil die Außenorientierung sozusagen Vorrang hat in der gefühlten Relevanz.

Auch das lässt sich evolutionsbiologisch erklären: Wir wenden uns nur dann ganz unserem Inneren zu, wenn wir uns äußerlich sicher fühlen. Oder wenn wir durch starke innere Empfindungen wie Schmerzen dazu gezwungen werden. Daher ist es auch nicht ungewöhnlich, dass HSP besonders schmerzempfindlich sind: Denn ihr System hat gelernt, dass es „schreien“ muss, um die Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ein schwaches Selbstwertgefühl als heimlicher innerer Antreiber

Doch manchmal steckt auch eine emotionale oder psychische Dynamik hinter der Präferenz für äußere Nöte gegenüber eigenen. Und hier wird es heiss: In vielen Fällen verbirgt die extreme Außenorientierung von Hochsensiblen vor ihnen selbst einen geringen Selbstwert. Das Gefühl des Wertvollseins erhalten sie mit anderen Worten stark übers Kümmern um andere, durch das Mitdenken und Mitfühlen – und durch „Leistung“. Ein Grundgefühl von „Ich genüge nicht“ kennen viele Hochsensible und es ist oft der heimliche innere Treiber für ihren großen Altruismus – neben einer echten, tiefen Empathiefähigkeit, die ebenfalls durch die Offenheit und Feinheit der Wahrnehmung bedingt ist.

Sind HSP besonders Burnout-gefährdet?

Wenn Menschen jahrelang über ihre Grenzen hinausgehen, um für andere da zu sein, kann sich auch „Empathie-Fatigue“ einstellen – eine Art HSP-Burnout, bei dem Betroffene von einem Gefühl starker innerer Sinnhaftigkeit durchs Helfen in Zynismus und innere Leere fallen – was sich durchaus als Depression manifestieren kann.

Übrigens sind Hochsensible noch aus einem noch weiteren Grund besonders Burnout-gefährdet: Sie leiden schnell unter kompletter Reizüberflutung, vor der sie sich nicht schützen können. Dazu kommt dann die hohe Empathie, hohe Verantwortung, feine Wertesensibilität und Leistungsorientierung

Von Symbiosen und Dysbiosen

Hier setzt auch eine spannende Erklärung an, warum Hochsensible so oft in tief verstrickte Beziehungen mit Narzissten gehen: Beide kennen die gleiche Urwunde – den mangelnden Selbstwert. Narzissten kompensieren dies durch Dominanz und Machtmanipulation. Empathen durch Sich-Nützlichmachen und Gebrauchtwerden. Beides sind im Extrem dysfunktionale Versuche, eine Bestätigung von außen zu erhalten für den inneren Schmerz der Selbstwertwunde. Die Strategien passen komplementär perfekt zusammen, was oft eine ungünstige und ungesunde Symbiose ergibt – aber letztlich natürlich auch die Chance birgt, dem Kernproblem ins Auge zu sehen.

Bin ich hochsensibel? Die wichtigsten Testfragen

Es gibt verschiedene Tests zum Thema Hochsensibilität. Wichtig ist mir hier der Hinweis: Tests sind Orientierung, keine Diagnose!

Im folgenden eine Übersicht der Tests, die ich persönlich gut finde:

https://www.zartbesaitet.net/hsptest/hsptest.php

https://www.high-sensitivity.de/test-bin-ich-hochsensibel (Übersetzung des Original HSP-Tests von Elaine Aron)

https://www.heiligenfeld.de/therapien/therapieangebote/hochsensible-menschen-mit-psychosomatischen-erkrankungen/selbsttest

https://hochsensibel-test.de/charaktereigenschaften/

https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/43389-test-bin-ich-hochsensibel.html

5 simple Leitfragen, die starke Hinweise auf Hochsensibilität geben

  1. Reagierst du stark auf Sinnesreize (Licht, Geräusche, Gerüche)?
  2. Spürst du Stimmungen und Erwartungen anderer oft deutlicher als dich selbst?
  3. Hast du ein intensives emotionales Innenleben und eine starke Intuition?
  4. Klingen Erlebnisse in dir tief nach – sei es Musik, Begegungen oder Gedanken?
  5. Fällt es dir schwer, Entscheidungen zu treffen, weil du viele Perspektiven gleichzeitig siehst?

Viele HSP spüren ihre Andersartigkeit auch intensiv und fühlen sich mitunter wie „Aliens“: Sehr allein in einer Gesellschaft, die für einen anderen Typ Mensch ausgelegt zu sein scheint!

Woher kommt Hochsensibilität eigentlich?

Die Rolle der Genetik

Wie wir schon gesehen haben, spielt bei der Hochsensibilität die Neuro-Biologie eine Rolle – und es gibt Hinweise, dass das Merkmal genetisch vererbt wird. Auch im Tierreich findet sich laut Studien ein gewisser Anteil der Population – man schätzt auch hier 15-20 Prozent -, der sensibler auf Reize reagiert als der Durchschnitt der Spezies. Die Theorie ist daher, dass die Hochsensibilität sich evolutionär als für die jeweilige Gesamtpopulation der Spezies hilfreiche Eigenschaft herausgestellt hat, da beispielsweise feinfühle Herdenmitglieder Gefahren früher und feiner wahrnehmen. Das ist ein Überlebensvorteil, besonders für Beutetiere und vulnerable Spezies wie beispielsweise auch wir Menschen.

Umwelteinflüsse als prägende Faktoren

Das „Differential Susceptibility Model“ von Michael Pluess hat die These, dass Hochsensible empfänglicher für Umwelteinflüsse sind – im Guten wie im Schlechten.

In belastenden Umgebungen haben sie ein stärkeres Risiko für Stress, Ängste und Überforderung. In nährenden Umgebungen entwickeln sie große Stärken (Resilienz, Kreativität, Empathie, Leadership).

Daher kann auch die gleiche genetische Disposition sehr verschiedene Ergebnisse haben, je nach Erziehung und Umfeld und Lebensereignissen.

Ich finde die These interessant, habe aber die Beobachtung, dass wahre Stärke und Resilienz eben gerade nicht nur auf nährenden Umgebungen basieren, sondern sich im Gegenteil geradezu typischerweise durch die reife Verarbeitung herausfordernder Erlebnisse ausprägen.

Erworbene Empfindlichkeit – Hochsensibilität und Trauma

Es klang ebenfalls schon an, dass vielfach auch eine erworbene Hoch- oder Hypersensibilität vorliegt. Erleben Menschen in frühen Jahren schwierige Bindungsstile durch ihre engsten Bezugspersonen, kann daraus ein Bindungstrauma entstehen. Das Kümmern um andere entspringt dann klar dem Versuch des kindlichen Ichs, in einer Umgebung, die als chaotisch und nicht fürsorglich erlebt wird, dadurch eben genau das herzustellen, was es braucht: Ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit. Oder ein Kind erlebt Gewalt – verbale, psychische oder körperliche Übergriffe oder Bedrohungen, etwa durch alkoholkranke Angehörige – und lernt, sehr wachsam gegenüber seiner Umgebung zu sein. Diese Eigenschaft nennt man dann „hypervigilant“ – ein typisches Merkmal von Trauma.

Aus meiner Sicht sind aber keineswegs alle HSP traumatisiert. Hochsensibilität hat verschiedene Ursachen und ist ein Spektrum. Und viele der schwierigen Aspekte lassen sich positiv beeinflussen beziehungsweise man kann lernen, sie gut zu integrieren und sogar als explizite Stärken zu nutzen!

In vielen Fällen „begünstigt“ aus meiner Sicht allerdings eine angeborene Hochsensibilität eine Trauma-Reaktion auf Erlebnisse oder Beobachtungen des Lebens, da feinfühlige Menschen eben auch emotional tiefer reagieren als neurotypische Menschen.

Was uns zu der Frage bringt: Sind Hochsensible neurodivergent?

Hochsensibel und neurodivergent?

Viele Experten ordnen Hochsensibilität in das Spektrum der Neurodivergenz ein. Neurodivergenz bedeutet eine Abweichung vom normaltypischen neuronalen Verarbeiten von Informationen und Eindrücken. Die bekanntesten Formen von Neurodivergenz sind ADHS und Autismus – beide sind zugleich auch psychische Diagnosen. Hochsensibilität ist hingegen keine Diagnose.

Meiner Meinung nach ist die Einordnung von Hochsensibilität ins Neurodivergenz-Spektrum passend. Zumal die modernen psychischen Diagnosen – etwa im Rahmen der ICD 10 oder ICD 11 – alle auf beobachtbaren Phänomen basieren und nicht auf verschiedenen Erklärungsmodellen. Das Kriterium, ob etwas eine Erkrankung ist, ist üblicherweise auch die Frage, ob es mit einem Leidensdruck und Problemen im Alltag einhergeht. Das kann für Hochsensibilität genauso zutreffen wie für ADHS und Autismus – muss es (ebenso wie bei diesen beiden) aber nicht.

Exkurs: Nutzen und Risiken von Diagnosen

Mit anderen Worten: Wir brauchen meines Erachtens einen anderen Blick auf psychische Diagnosen und Einordnungen! Der Vorteil, eine Diagnose-fähige Beschwerde zu haben, liegt zum einen in der Möglichkeit, dann auch gezieltere Unterstützung im Umgang damit zu bekommen – etwa im Rahmen des Gesundheitssystems. Zum anderen ist ein möglicher Vorteil auch, etwa im Arbeitskontext einfordern zu können, dass im Sinne der Gleichstellung, Chancengleichheit und Teilhabe Rahmenbedingungen der Arbeit so angepasst werden, dass eben auch neurodivergente Menschen nicht benachteiligt sind.

Dem stehen aber auch Nachteile entgegen: Es droht die Gefahr der Stigmatisierung und Ausgrenzung von bestimmten Karrierewegen. Es mag zu Nachteilen kommen, bestimmte Versicherungen abzuschließen, wenn Diagnosen vorliegen (etwa Krankenversicherungen oder BU-Versicherungen schließen bei Vorerkrankungen möglicherweise den ganzen Bereich Psyche vom Versicherungsschutz aus – mit weitreichenden Konsequenzen, wenn man bedenkt, dass psychische Erkrankungen jeder Art zu den häufigsten Gründen für Arbeitsunfähigkeit gehören).

Eine Diagnose kann auch entlasten und helfen, bestimmte Dinge besser einzuordnen, mehr Verständnis für sich selbst zu entwickeln und eine Kommunikation über besondere Bedürfnisee gegenüber anderen erleichtern. Zugleich droht aber auch die Gefahr einer Überidentifizierung mit einer Diagnose seitens der Betroffenen, die dann zu einer Abwehr gegen jegliche Art von sozialer Einordnung und Orientierung an Normen führen kann – oder auch zu einer Rechtfertigung für eine passive Opferhaltung gegenüber dem Leben.

Ich persönlich finde es daher gut, dass Hochsensibilität keine Diagnose ist. Zumal ich darin trotz dem zweifelsohne oft vorhandenen Leidensdruck keine Sammlung von Defiziten und Symptomen sehe – genauso wenig wie in Autismus und ADHS. Sondern vielmehr eine riesige Ressource und viele einzelne darin angelegte „Superkräfte“, die Betroffene allerdings im Laufe des Lebens meist lernen müssen zu nutzen statt darunter zu leiden.

Die öffentliche Diskussion über diese Themen ist zugleich sehr wertvoll und wichtig, denn dadurch wächst auch das gegenseitige Verständnis und das Potenzialbewusstsein, das in diesen Eigenschaften steckt!

„Neurodivers“ ist nicht das Gleiche wie „neurodivergent“

Eine hilfreiche Einordnung ist, dass alle Menschen „neurodivers“ sind – das heißt, wir alle sind neurobiologisch verschieden, eben divers. Kein Gehirn gleicht dem anderen. Die Verknüpfungen der Milliarden von Nervenzellen sind bei jedem Menschen komplett einzigartig. Im Gegensatz zu dieser Neurodiversität spricht man dann von Neurodivergenz, wenn Menschen mehr oder minder deutlich vom Durchschnitt abweichen.

Doch die Frage, was denn dann eigentlich genau „neurotypisch“ ist, ist meines Erachtens mindestens ebenso spannend wie die Diskussion um Neurodivergenz an sich!

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ADHS, Autismus und HSP

Allen drei Formen der Neurodivergenz sind einige Eigenschaften gemeinsam:

  • Sie können sehr kreativ, intelligent und besonders feinfühlig wirken.
  • Sie teilen die Tendenz, von „normalen“ Systemen überfordert oder missverstanden zu werden.
  • Überlappungen gibt es besonders bei der Reizoffenheit und sozialem Stress.

Doch es gibt unterschiedliche Akzentuierungen und einige Besonderheiten:

  • ADHS: Probleme mit Impulskontrolle & Aufmerksamkeitssteuerung, teils auch Hyperfokus
  • Autismus: andere soziale Informationsverarbeitung, Meltdowns, Masking, starke Spezialinteressen
  • HSP: feine Wahrnehmung, tiefe Verarbeitung, schnelle Überstimulation, hohe Empathie und Intuition

Zwar kommen die meisten der genannten Stichworte auch bei den anderen Formen der Neurodivergenz vor. Aber mein Eindruck ist, dass es Schwerpunkte gibt, die die Ausprägungen letzlich voneinander unterscheidbar machen.

Stark vereinfachend ausgedrückt:
Hochsensibilität ist primär eine verstärkte Wahrnehmungs- und Verarbeitungstiefe.
ADHS eine Beeinträchtigung der Steuerung und Fokussierung von Aufmerksamkeit und
Autismus eine andere Art der Informationsverarbeitung, besonders im sozialen Bereich.

Zugleich muss man auch sagen, dass bei sehr vielen neurodivergenten Menschen mehrere Ausprägungen parallel vorliegen. Viele HSP sind also auch ADHSler und umgekehrt. Viele Autisten sind zugleich auch hochsensibel, und viele Hochsensible maskieren wie Autisten, usw.

Forscher untersuchen, inwieweit diese Ähnlichkeiten und Überlappungen damit zusammenhängen, dass die für die neurodivergenten Verarbeitungsstile zugrundeliegenden Gehirnareale die gleichen sind. Hier eine interessante Übersichtsstudie von 2018, die sich damit auseinandersetzt. (Acevedo, Bianca et al. “The functional highly sensitive brain: a review of the brain circuits underlying sensory processing sensitivity and seemingly related disorders.” Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciencesvol. 373,1744 (2018): 20170161. doi:10.1098/rstb.2017.0161)

Übersichtstabelle

MerkmalHochsensibilität (HSP)ADHSAutismus-Spektrum
ReizverarbeitungSehr fein, tief, schnell überreiztReizoffen, aber Probleme mit Filter/FokusHäufig überempfindlich, atypische Filterung
AufmerksamkeitEher stabil, außer bei ÜberstimulationKernthema: Fokus, ImpulsivitätKann sehr fokussiert oder sehr abgelenkt sein
EmotionenSehr empathisch, mitschwingendImpulsiv, emotional reaktivAusdruck/ Wahrnehmung von Gefühlen ist anders
Soziale WahrnehmungFeines Gespür für ZwischentöneOft impulsiv/ unstrukturiertSchwierigkeiten mit unausgesprochenen Regeln
Kreativität/IdeenHoch, intuitivSehr hoch, oft übersprudelndHoch, oft Detail- oder Spezialinteressen
Selbstregulations-fähigkeitGrundsätzlich intakt, trainierbarHäufig beeinträchtigtMeltdowns/ Shutdowns bei Überlastung möglich
Klinischer StatusPersönlichkeitsmerkmalEntwicklungsstörung (Diagnose)Entwicklungsstörung (Diagnose)

Hochsensible Verhaltens-Typen

Je nach persönlicher Lebensgeschichte und prägenden Erlebnissen, der aktuellen Umgebung und Lebenssituation (Rolle im Job und Familie) und persönlichen anderen Charaktermerkmalen, kann sich Hochsensibilität im Verhalten recht unterschiedlich zeigen:

  • Vorsichtige Versteher: Diese Menschen sind oft die stillen Versteher und nehmen neben vielen sinnlichen Nuancen auch Stimmungen und Erwartungen anderer sehr fein wahr. Sie sind aber in sozialen Situationen sehr schnell mit Reizen verschiedenster Art überfordert und schützen sich, indem sie sich zurückziehen. Aufgrund ihrer Selbstisolation leiden sie dann aber oft unter Einsamkeit und verpassen viele schöne Momente der Interaktion wie auch berufliche Chancen. Sie wissen, dass sie sensibler als andere sind – empfinden es aber leider oft mehr als Last denn als Stärke, zumal sie auch sozial stark missverstanden werden. Oft besteht auch aus der Entwicklung aus der aktuellen Situation heraus eine erhöhte Vulnerabilität – d. h. Verletzlichkeit. Dieser Typ entspricht am meisten dem kulturellen Stereotyp von Hochsensibilität.

  • Kreative Scanner (High Sensation Seeker): Diese Gruppe ist geprägt durch eine große Ideenfülle und hohe Kreativität. Dieser Typ – zu dem auch ich gehöre – liebt nicht nur die leisen Töne, sondern auch hohe Intensität. Meines Erachtens gibt es hier große Überschneidungen zu ADHS – und die Auseinandersetzung auch damit kann viele spannende Selbsterkenntnisse bringen. Die Herausforderung ist, dass die Scannereigenschaft oft dazu führt, Belastungsgrenzen zu übergehen. Diese Menschen wissen um ihre Feinfühligkeit, wirken auf andere aber oft viel robuster als sie sind, da sie willentlich die Grenzüberschreitung suchen und oft einen enormen, sozial bewunderten Output haben.

  • Empathische Systemiker: Menschen mit diesem Typ sind sehr leistungsfähig und verantwortungsvoll. Sie sind zugleich fein und „tough“ – oft auch scharfsinne und schnelle Denker, die Entwicklungen vorausahnen. Sie „funktionieren“ äußerlich weiter, auch wenn sie innerlich leiden. Das und ihre Fähigkeit, unausgesprochene Erwartungen seismografisch zu erfassen und übertreffen zu wollen, birgt ein sehr hohes Burnout-Risiko. Diese Menschen sehen sich selbst oft gar nicht als feinfühlig, da sie extrem ambitioniert und kraftvoll arbeiten. Ihre fein ausgeprägte Gefühlsebene betrachten sie als lästig und spalten sie ab, um zu funktionieren – außer, dass sie für andere mit übergroßer Empathie da sind. Die Identifikation mit dem Nicht-Empfindlich-Sein-Wollen ist so hoch, dass in einer Krise mit Leistungseinbruch das Selbstbild komplett erschüttert wird.

Natürlich gibt es Experten, die Hochsensibilitäts-Typen anders unterscheiden – etwa Patrice Wyrsch, der nach dem Grad der Vulnerabilität bzw. Funktionalität / Kompetenz im Umgang damit differenziert. Das Konzept der Vulnerabilität zu verstehen, ist aus meiner Sicht essenziell! Denn es zeigt auch Ansatzpunkte, mit individueller Verletzlichkeit gut umzugehen – sprich, auch resilienter zu werden. Es gibt eine spannende Studie, dass Achtsamkeit bzw. MBSR (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion nach Jon Kabat-Zinn) HSP helfen, sich selbst besser zu regulieren – d.h. weniger unter ihrer Hochsensitivität zu leiden. (Soons, I., Brouwers, A., & Tomic, W. (2010). An experimental study of the psychological impact of a Mindfulness-Based Stress Reduction Program on highly sensitive personsEurope’s Journal of Psychology6(4), Article e228. https://doi.org/10.5964/ejop.v6i4.228)

Andere Experten wie Jutta Jorzik-Oels unterscheiden Typen nach dem Sinneskanal, der besonders sensibel wahrgenommen wird. Ich finde es sehr wichtig, über sich selbst zu wissen, welches der sensitivste Kanal ist – denn das ist auch oft der Kanal, über den sich unsere Intuition bevorzugt mitteilt.

Und natürlich kann man auch eine graduelle Typisierung der Hochsensibilität verwenden. Da die Ausprägung aber stark davon abhängt, wie stark selbstwirksam und innerlich integriert und achtsam HSP sind, kann der Grad der äußerlich beobachtbaren „Empfindlichkeit“ mehr oder weniger stark von der tatsächlichen inneren Sensitivität abweichen.

„Robuste Hochsensible“ – gibt es das?

Hochsensible können auch hochfunktional sein – wenn sie gelernt haben, sich zu regulieren, gesunde Grenzen zu setzen und wenn sie ihre tiefen Bedürfnisse und Stärken gut kennen. Mit „hochfunktional“ ist hier allerdings keine Anpassung an die Norm gemeint, denn das fördert eher Selbstverleugnung und damit Burnout-Risiken. Es geht vielmehr um Integration und gesunde Selbstführung.

Ich persönlich bin sicher weit entfernt davon, „robust“ zu wirken. Stark bin ich aber schon – beziehungsweise „selbst-integriert“. Mein Arzt von damals würde mich wahrscheinlich kaum wiedererkennen, so anders gehe ich heute mit meiner Feinfühligkeit um!

Ich habe mich inzwischen seit Jahrzehnten mit Achtsamkeit, Yoga, Philosophie, Beziehungen und Psychologie – und auch meinen versteckten inneren Antreibern – auseinandergesetzt. So habe ich letztlich mein inneres System in eine Harmonie gebracht und achte meine Stärken wie auch meine Schwächen liebevoll. Mein Selbstwertgefühl ist nicht mehr von meiner Leistung oder meiner „Nützlichkeit“ abhängig und ich habe meine Wertekonflikte rund um das Thema Arbeit gelöst, indem ich die Weichen grundlegend neu gestellt habe und heute das tue, was mich wirklich mit tiefem Sinn erfüllt: Nämlich andere feinfühlige Menschen unterstützen, in ihre sensible und empathische Kraft zu kommen!

Insofern bin ich aus eigener Erfahrung überzeugt, dass sich sensible Stärke lernen lässt – daher auch mein Motto „sensibel stark“! Diese Stärke ist dabei kein „bulletproof-Status“, sondern eine neue Art der inneren Balance, für die es einige essenzielle Lernfelder gibt!

Sensibel stark werden – wie geht das?

Um es vorweg zu nehmen: Allein das Lesen guter Ratschläge reicht nicht. HSP dürfen lernen, sich selbst und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen und gut für sich zu sorgen. Zeit und Energie zu investieren, um einen neuen Umgang mit dieser Eigenschaft der Hochsensibilität zu lernen … mitten im Leben, mit Emotionen, Körperempfindungen und Denkprozessen.

Dabei finde ich auch wichtig zu sagen, dass niemand das ganz alleine machen muss – es gibt wunderbare Ressourcen wie Kurse, Coachings, Selbsterfahrungsformate und vieles mehr. Auch ich begleite in meiner Arbeit als Coach viele hochsensible Menschen. Die wenigsten kommen aber nicht wegen ihrer Hochsensibilität zu mir, was auch schlüssig ist: Denn die Hochsensibilität an sich ist nicht das Problem. Wenn man aber nicht gelernt hat, gut für sich zu sorgen, können sich daraus eine Reihe anderer Herausforderungen entwickeln.

Diese Lernfelder sind für Hochsensible elementar wichtig

  • Achtsamkeit & Selbstregulation: Nervensystem beruhigen lernen, Präsenz und Fokus kultivieren
  • Schützende Räume: Orte, Beziehungen und Arbeitsumfelder, die nicht dauerhaft überfordern
  • Gesunde Grenzen & Kommunikation: Bedürfnisse spüren, klar ausdrücken, „Nein“ sagen lernen
  • Wertekompass entwickeln: Klarheit über das, was stimmig ist – und sich selbst bewusst daran ausrichten
  • Stimmiges Berufsleben: Dauerhaft geht es nicht gegen die eigene Natur. Ein toxisches Umfeld oder auch schlicht Großraumbüro, Dauerdruck und Neonröhren sind für HSP auf Dauer ungesund
  • Selbstfürsorge & Energiemanagement: Schlaf, Pausen, Rhythmus, Ernährung, Bewegung – all das sind essenzielle Basics, die HSP genauso ernst nehmen dürfen wie ihre hehren Ziele
  • Ressourcen nutzen: Natur, Musik, Tiere, kreative Ausdrucksformen, Austausch mit Gleichgesinnten
  • Vertrauen: in die eigene tiefe Stärke, die keine klassische Stabilität ist, sondern lebendige Balance
  • Gemeinschaft pflegen: Der Austausch mit anderen Sensiblen normalisiert, verbindet & inspiriert

Fazit: Hochsensibilität ist keine Schwäche, sondern eine Spezialbegabung

Entscheidend ist der bewusste Umgang mit der Feinfühligkeit als Eigenschaft. Die größten Geschenke der Hochsensibilität sind aus meiner Sicht:

  • tiefe Empfindungsfähigkeit, die große Lebendigkeit und Genussfähigkeit mit sich bringt
  • offene Grundeinstellung, die spannende Details und neue Aspekte offenlegt
  • hohe Empathiefähigkeit, die zu tiefer Verbundenheit befähigt
  • feine Intuition, die Stimmigkeit klar signalisiert und ein starker innerer Kompass ist
  • vernetztes, ganzheitliches Denken, das versteckte Zusammenhänge aufzeigt
  • große Kreativität, die innere Vision und äußere Impulse zu spannenden Schöpfungen verschmilzt
  • stille und werteorientierte Power – ein Führungsstil, der in der Welt dringendst gebraucht wird!

Was sind aus deiner Sicht die Gaben der Hochsensibilität? Was hat dich in diesem Beitrag überrascht – hast du neue Erkenntnisse und Perspektiven gewonnen? Falls du hochsensibel bist: Welches Verhältnis hast du heute zu dieser Eigenschaft ? Und wie bist du dahin gekommen, was hat dir geholfen? Teile es gerne in den Kommentaren!

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